Deshalb auch kann es nicht
bei der wörtlichen Übernahme dessen bleiben, was die erste Kirche an
Offenbarungsgut empfangen hat. Geführt
vom Heiligen Geist, geht die lebendige Kirche durch die Jahrhunderte, dringt
tiefer und tiefer in die Offenbarungsgeheimnisse Gottes ein, begegnet mit
diesen Geheimnissen dem Fragen und Suchen der jeweiligen Zeit, erkennt die
Zusammenhänge und „entfaltet" so, was im urgegebenen Offenbarungswort,
wie die theologische Fachsprache sagt, „implicite, eingefaltet", enthalten
war.
Dieses tiefere Eindringen und
Fortschreiten in der Erkenntnis dessen, was zur Offenbarung gehört, geschieht
nicht durch die Tätigkeit natürlicher Logik allein. Die geistige Lebendigkeit
der Kirche ist zwar auch die Regsamkeit des Menschengeistes ihrer Glieder. Aber
sie ist durchdrungen von der „Suggestion
des Heiligen Geistes", wie das Konzil von Trient einmal sagt (6.
Sitzung, Einleitung). Und diese Wirksamkeit des Heiligen Geistes, von dem ja
Christus selbst gesagt hat, daß er die Seinen in alles einführen werde, was er
gesagt hat (Joh. 16, 13), läßt die Kirche
in der Offenbarung schließlich mehr erkennen als rein natürliche Denkkraft
hätte erkennen können.
So hat die Kirche nach
längeren Jahrhunderten auch mehr und mehr erkannt, daß mit dem, was Gott seiner
Kirche über Maria offenbart hat, die er seiner Kirche als Urbild der erlösten
Menschheit vor Augen stellte, auch ihre leibliche Aufnahme in den Zustand der
Vollerlöstheit ausgesagt sei.
Ein ernstes Bedenken meldet
sich hier an. Die Reformation hat dieses Bedenken durch die Hinwendung zum
geschriebenen Wort der Bibel allein ausräumen wollen. Wir wissen, daß dieses
Bedenken ernst ist, daß Gott aber für seine Überwindung in der Kirche anders gesorgt
hat als durch die Bindung an die Heilige Schrift allein. Das Bedenken ist dies:
Durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes im Glaubensleben der Kirche werden
menschliche Phantasie und legendenbildende Wunschträume nicht ausgeschlossen.
Das Menschliche in der Kirche
ist nicht nur die Sünde, die es in ihr gibt, sondern auch fromme oder unfromme
Phantasie, die sich an die Stelle des wahren Glaubens setzen will. Wer also gibt mir die Garantie, daß
das, was in der Kirche über das ausdrückliche Wort der Schrift und über das
ausdrückliche Zeugnis der Urkirche hinaus geglaubt wird, wahre, vom Heiligen
Geis) geleitete Entfaltung der Glaubenserkenntnis isf und nicht menschliche
Legende?
Hier stehen wir vor der
Aufgabe des kirchlichen Lehramtes, das sich als „ordentliches Lehramt" in der Lehrverkündigung aller Bischöfe
des ganzen Erdkreises, als „außerordentliches
Lehramt" aber im definitiven Spruch eines allgemeinen Konzils oder der
Kathedralentscheidung des Papstes äußert. Das außerordentliche Lehrwirken hat
nicht die Initiative im Glaubensleben der Kirche. Es hat vielmehr die Entfaltung
des Glaubenslebens gewissermaßen aufzufangen und da, wo sich Falsches mit dem
Wahren, menschliches Träumen mit Gottes Offenbarungswort vermischt hat, zu
klären; da, wo auf Grund gegnerischer Angriffe oder innerkirchlicher Unklarheit
Unsicherheit aufkommt, im kristallklaren
Wort des Dogmas zu entscheiden.
Denn die Kirche ist „die Säule und Grundfeste der Wahrheit" (1. Tim.
3, 15). Und es darf nicht sein, daß die Pforten der Hölle — dazu gehört auch
Irren und Unwahrheit — sie überwinden (vgl. Mt. 16, 18).
Die Definition des 1.
November 1950 ist an dieser Stelle also einzuordnen:
Ihr Inhalt ist nichts Neues, sondern die Entfaltung
dessen, was Gott seiner Kirche von Anfang an über Maria offenbart hat; eine Entfaltung, die durch die Geschichte geht,
durch die Legenden des „Transitus Mariae"
im 5. Jahrhundert hindurch, über Für und Wider des Glaubens und der Theologie,
zur offiziellen Glaubensverkündigung vor allem seit dem 16. Jahrhundert (Pius
V.) bis zu der seit einem Jahrhundert neu aufgebrochenen „assumptionistischen
Bewegung":
Am Ende steht die Definition, die letzte Klarheit
schafft.
Mariens Herrlichkeit. Mariens
leibliche Aufnahme als Dogma der Kirche, von Otto Semmelroth S. J.
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