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Mittwoch, 12. August 2015

Das Dogma der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel (2/4)

Gewiß, der Mensch möchte, wie alles, so auch seinen Glauben sichern gegen allzu menschliche Wucherungen und Verzerrungen. Deshalb hätte er gern die Gegenstände seines Glaubens kodifiziert, in schriftlicher Festlegung abgegrenzt gegen alles, was unberechtigterweise den Anspruch erhebt, Offenbarung Gottes zu sein. Aber schließlich ist es eine Verkennung der Kirche, die, vom Heiligen Geist belebt, lebendig mit dem Wort ihres göttlichen Partners umgehen muß und, wie man nicht leugnen kann, auch in der Heiligen Schrift Spuren der leiblichen Himmelfahrt Mariens findet.

Deshalb auch kann es nicht bei der wörtlichen Übernahme dessen bleiben, was die erste Kirche an Offenbarungsgut empfangen hat. Geführt vom Heiligen Geist, geht die lebendige Kirche durch die Jahrhunderte, dringt tiefer und tiefer in die Offenbarungsgeheimnisse Gottes ein, begegnet mit diesen Geheimnissen dem Fragen und Suchen der jeweiligen Zeit, erkennt die Zusammenhänge und „entfaltet" so, was im urgegebenen Offenbarungswort, wie die theologische Fachsprache sagt, „implicite, eingefaltet", enthalten war.

Dieses tiefere Eindringen und Fortschreiten in der Erkenntnis dessen, was zur Offenbarung gehört, geschieht nicht durch die Tätigkeit natürlicher Logik allein. Die geistige Lebendigkeit der Kirche ist zwar auch die Regsamkeit des Menschengeistes ihrer Glieder. Aber sie ist durchdrungen von der „Suggestion des Heiligen Geistes", wie das Konzil von Trient einmal sagt (6. Sitzung, Einleitung). Und diese Wirksamkeit des Heiligen Geistes, von dem ja Christus selbst gesagt hat, daß er die Seinen in alles einführen werde, was er gesagt hat (Joh. 16, 13), läßt die Kirche in der Offenbarung schließlich mehr erkennen als rein natürliche Denkkraft hätte erkennen können.

So hat die Kirche nach längeren Jahrhunderten auch mehr und mehr erkannt, daß mit dem, was Gott seiner Kirche über Maria offenbart hat, die er seiner Kirche als Urbild der erlösten Menschheit vor Augen stellte, auch ihre leibliche Aufnahme in den Zustand der Vollerlöstheit ausgesagt sei.

Ein ernstes Bedenken meldet sich hier an. Die Reformation hat dieses Bedenken durch die Hinwendung zum geschriebenen Wort der Bibel allein ausräumen wollen. Wir wissen, daß dieses Bedenken ernst ist, daß Gott aber für seine Überwindung in der Kirche anders gesorgt hat als durch die Bindung an die Heilige Schrift allein. Das Bedenken ist dies: Durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes im Glaubensleben der Kirche werden menschliche Phantasie und legendenbildende Wunschträume nicht ausgeschlossen.

Das Menschliche in der Kirche ist nicht nur die Sünde, die es in ihr gibt, sondern auch fromme oder unfromme Phantasie, die sich an die Stelle des wahren Glaubens setzen will. Wer also gibt mir die Garantie, daß das, was in der Kirche über das ausdrückliche Wort der Schrift und über das ausdrückliche Zeugnis der Urkirche hinaus geglaubt wird, wahre, vom Heiligen Geis) geleitete Entfaltung der Glaubenserkenntnis isf und nicht menschliche Legende?

Hier stehen wir vor der Aufgabe des kirchlichen Lehramtes, das sich als „ordentliches Lehramt" in der Lehrverkündigung aller Bischöfe des ganzen Erdkreises, als „außerordentliches Lehramt" aber im definitiven Spruch eines allgemeinen Konzils oder der Kathedralentscheidung des Papstes äußert. Das außerordentliche Lehrwirken hat nicht die Initiative im Glaubensleben der Kirche. Es hat vielmehr die Entfaltung des Glaubenslebens gewissermaßen aufzufangen und da, wo sich Falsches mit dem Wahren, menschliches Träumen mit Gottes Offenbarungswort vermischt hat, zu klären; da, wo auf Grund gegnerischer Angriffe oder innerkirchlicher Unklarheit Unsicherheit aufkommt, im kristallklaren Wort des Dogmas zu entscheiden.

Denn die Kirche ist „die Säule und Grundfeste der Wahrheit" (1. Tim. 3, 15). Und es darf nicht sein, daß die Pforten der Hölle — dazu gehört auch Irren und Unwahrheit — sie überwinden (vgl. Mt. 16, 18).

Die Definition des 1. November 1950 ist an dieser Stelle also einzuordnen:
Ihr Inhalt ist nichts Neues, sondern die Entfaltung dessen, was Gott seiner Kirche von Anfang an über Maria offenbart hat; eine Entfaltung, die durch die Geschichte geht, durch die Legenden des „Transitus Mariae" im 5. Jahrhundert hindurch, über Für und Wider des Glaubens und der Theologie, zur offiziellen Glaubensverkündigung vor allem seit dem 16. Jahrhundert (Pius V.) bis zu der seit einem Jahrhundert neu aufgebrochenen „assumptionistischen Bewegung":
Am Ende steht die Definition, die letzte Klarheit schafft.

Mariens Herrlichkeit. Mariens leibliche Aufnahme als Dogma der Kirche, von Otto Semmelroth S. J.



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