Jean Raspail wird im Jahr
1993, 68 jährig, interviewt und auf dieses Buch angesprochen und gefragt: Das Heerlager der Heiligen ist bereits
zwanzig Jahre alt. Vergleichen Sie das, was sich heute ereignet, mit dem, was
Sie einst geschrieben haben?
Raspail antwortet darauf:
Ja, und ich bin gehörig überrascht. Ich habe dort
Predigten, Leitartikel oder sogar Szenen eingewoben, die ich gänzlich erfunden
hatte, und die ich nun fortwährend wiederfinde, in all dem, was heute gesagt
wird. Mir schien es immer, als hätte das Heerlager eine stark »inspirierte«
Seite, als wäre es mir von einem Geist außerhalb meiner selbst eingegeben
worden. Ich bin auch sehr überrascht, die boatpeople erfunden zu haben, bevor
es sie tatsächlich gab. Haben Sie mich eigentlich schon danach gefragt, was mir
unerträglich ist? Es sind all diese hübschen guten Gewissen der guten Menschen.
Deshalb bevorzuge ich einen Platz im Hintergrund; ich hatte nie das Bedürfnis,
eine solche Rolle zu spielen, denn ich weiß, wie falsch sie ist. Diese Leute,
die ihre Zeit als moralische Autoritäten verbringen, um einem zu diktieren, was
man tun und lassen soll: das ertrage ich nicht. Ich habe es genossen, einige
von ihnen im Heerlager auftreten zu lassen, und heute begegnen sie mir alle
wieder.
Scheinbar im Vorgriff auf unsere
heute Situation im Zusammenhang mit den Flüchtlingen wird er gefragt:
Das Attribut, das Ihrem Heerlager oft zugeschrieben
wird, lautet ‚prophetisch‘. Halten Sie das für übertrieben?
Raspail:
Ehrlich gesagt: nein. Auch wenn ich damit wohl nicht
gerade einen Beweis für meine große Bescheidenheit liefere. Wie ich schon
sagte, es gab eine gewisse Art der Inspiration, die man nicht definieren kann,
die höherer Natur ist. Von einem göttlichen Befehl zu sprechen, ginge freilich
zu weit. Aber wenn dieses Buch einen prophetischen Zug hat, dann verdankt er
sich dieser Inspiration. Ich habe es nahezu in einem Zug geschrieben, das hat
sechs oder sieben Monate gedauert, eine Zeitspanne, in der ich mich nicht von
ihm lösen konnte: und als ich es abgeschlossen hatte, war ich nicht mehr
derselbe. Es war das einzige Mal, in der die Niederschrift eines Buches mein
Gesicht veränderte. Es sah während dieser Zeit völlig anders aus, als es
normalerweise ist; die Fotos von damals bezeugen es. Als ich mit dem Buch
fertig war, begann ein neues Kapitel meines Lebens ...
Übrigens;
auf die Frage: „Was möchten Sie sein?“ antwortet Raspail:
Ich wäre gern ein bedeutender katholischer Prälat,
herrlich anzusehen, unnachgiebig im Dogma, vierzig Personen zu Tische
empfangend, umgeben von Dienern mit weißen Handschuhen, in einem prächtigen
Bistum. . .
Auf die Frage nach dem
irdischen Glück antwortet Jean Raspail:
Wenn es einem gelingt, nicht nur einmal, sondern
vielleicht sogar zweimal, dreimal oder häufiger die Wirklichkeit und den Traum
in Einklang zu bringen, ist das ein unermeßliches Glück. Ich habe geträumt, ein
Forscher zu werden: und ich wurde einer. Ich habe geträumt, Schriftsteller zu
werden, lange bevor ich zu schreiben anfing - ich bin spät Schriftsteller
geworden -: und ich wurde einer. Ich habe von einer großen Liebe geträumt: auch
dieser Wunsch wurde erfüllt. Und das ist fantastisch. […] Man ist jedoch nicht
auf der Welt, um glücklich zu sein. Dieses allseitige Streben nach Glück macht
mich wahnsinnig. Wenn man es dennoch findet, umso besser. Man kann es im
übrigen in ganz unterschiedlichen Dingen erleben: beim Cassoulet essen, beim
Musik hören, wenn man seine Geliebte küßt oder in der Sechs-Uhr-Morgenmesse an
der heiligen Kommunion teilnimmt; aber das ist nicht der Sinn des irdischen
Daseins.
Die Moral des Glücklichseins lehne ich ab.
„Der Schriftsteller Jean
Raspail, geboren am 5. Juli 1925, ist Royalist, gläubiger Katholik und
Verfasser grandioser Dystopien. Er gehört zu den führenden unabhängigen Autoren
Frankreichs, viele seiner Bücher erhielten renommierte Kritikerpreise. Neben
seiner publizistischen Tätigkeit leitete Raspail zahlreiche Reisen und
Expeditionen. Er ist Mitgleid der Societe des Explorateurs Francais und
Generalkonsul von Patagonien. In Deutschland ist Raspail bisher einem ebenso
ausgesuchten wie feinen Publikum bekannt, und zwar aufgrund dreier Bücher: Das
Heerlager der Heiligen (dt. 1985), Sire (dt. 2005) und Sieben Reiter verließen
die Stadt (dt. 2013, erschienen im Verlag Antaios). Das 41. kaplaken bietet nun
eine typische Auswahl aus dem essayistischen Werk Raspails und erschließt
mittels einiger Gespräche das Selbstverständnis dieses wichtigen Autors.“
JEAN RASPAIL. DER LETZTE
FRANZOSE. VERLAG ANTAIOS kaplaken 41
Martin Lichtmesz (der beste
Kenner Raspails außerhalb Frankreichs) und Benedikt Kaiser übersetzten
Gespräche, Interviews und Essays Raspails. Daraus entstand 2014 das
kaplaken-Bändchen „Der letzte Franzose“. Die oben zitierten Zeilen sind einem Interview entnommen, das gleichfalls für diese Buch übersetzt wurde.
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