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Dienstag, 12. Mai 2015

Wer war Jeanne-Marie Guyon (7/8)

Der uns erhaltene, zum Teil in Gedichtform geführte Briefwechsel gibt ein bewegendes, ergreifendes Zeugnis. Fenelon gegenüber ist sie in erster Linie die Gebende:

„Madame Guyon erkannte, daß Fenelon ein suchender Intellektueller war; seine rein verstandliche Frömmigkeit von Saint-Sulpice befriedigte ihn nicht mehr. Sie wurde seine geistliche Führerin. Sie zeigte ihm, daß die vermeintliche geistliche ‚Trockenheit', also Gefühlsleere, kein vorübergehender Zustand war, sondern ein Weg, Gott jenseits von Sentiment zu begegnen. Fenelon begriff und konnte als Theologe diese Lehren Madame Guyons durch intensives Studium patristischer und mittelalterlicher Mystik unterbauen. Langsam ordnete er seinen Weg um Begriffe wie Leerwerden, Zunichte-Werden, Hingabe, Nicht-Schauen usw. Und in der Mitte von alledem fand er die selbstlose, reine Liebe, die nur liebt um des anderen willen, nicht aber wegen Erfahrung oder Liebreiz oder Schönheit usw.

Madame de Maintenon aber wird aus vielen Gründen - sicherlich auch durch Machenschaften von Erzbischof de Harlay - zur Gegnerin von Madame Guyon und damit auch Fenelons. Der Kreis von Saint-Cyr, wo beider Mystik blühte, wird aufgelöst. Gegen Madame Guyon wird der Vorwurf von Häresie erhoben. Der alte Freund Fenelons, Bischof Bossuet, kippt um. Madame de Maintenon gelingt es, Fenelon mit der Verleihung des Bischofsstuhles von Cambrai aus Paris zu entfernen. Ein halbherziger Kompromiß von Issy (1695) schafft nur wenig Ruhe. Politik und Frömmigkeit, cartesianischer Rationalismus und mystische Radikalität, Bossuet ur Fenelon stehen gegeneinander.

Ein erster Punkt der Streitigkeiten: ob Mystik, wie Fenelon meint, nur eine Entfaltung christlicher Gnade sei, ist weniger brennend; hier kann Fenelon viele Argumente anführen. Aber der zweite wird zum Verhängnis. Ist der Höhepunkt der mystischen Liebe ohne jedes  eigene Interesse, ohne Suchen nach eigenem Glück? Oder darf man die auf den Menschen bezogenen Erfüllungen nicht ausklammern aus der höchsten Gottesliebe? Louis Cognet macht darauf aufmerksam, daß in der Kontroverse der ontologische Gesichtspunkt (wo Liebe zu Gott und eigene Erfüllung untrennbar eins sind) und die psychologische Erfahrung (daß ein Mensch aus Liebe sich selbst vergißt) niemals klar getrennt werden.

Da Bossuet spürt, daß er rein argumentativ nicht siegen kann, intrigiert er. Madame Guyon wird ins Gefängnis geworfen [27. XII. 1695; seit 4. VI. 1698 in d Bastille], und ein literarisch perfektes Werk aus Bossue Hand verdächtigt zwischen den Zeilen das Verhältnis Guyon-Fenelon. Aber dieser bringt seinen Fall selbst nach Rom. Dort aber sind es unglücklicherweise Jesuiten, die allmählich selbst in Mißkredit bei der Kirche geraten sind, die ihn verteidigen, während Bossuet eine Gruppe von jansenismus-freundlichen Klerikern für sich hat. Man versucht, Fenelon und Molinos innerlich zu verknüpfen.

Der König ergreift für Bossuet Partei. Und trotz des Widerstandes Innozenz' XII. kommt es [12. III. 1699] zu einer vorsichtigen Verurteilung von Sätzen aus dem ,Explication des Maximes des Saints sur la vie interieur‘, mit denen Fenelon Madame Guyon zu verteidigen suchte.

Fenelon erkennt die Verurteilung an, aber nicht, daß damit seine eigene Meinung getroffen sei. Er lehrt weiter wie bisher, unterhält weiterhin die Freundschaft mit Madame Guyon, die 1703 aus der Bastille entlassen wird. Fenelon selbst scheint in diesen Intrigen gereift zu sein. Als er 1715 starb, verehrten ihn viele wie einen Heiligen."

(vgl. E. Jungclausen, Suche Gott in dir; 1986)


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