„Madame Guyon erkannte, daß Fenelon ein suchender
Intellektueller war; seine rein verstandliche Frömmigkeit von Saint-Sulpice
befriedigte ihn nicht mehr. Sie wurde seine geistliche Führerin. Sie zeigte
ihm, daß die vermeintliche geistliche ‚Trockenheit', also Gefühlsleere, kein
vorübergehender Zustand war, sondern ein Weg, Gott jenseits von Sentiment zu
begegnen. Fenelon begriff und konnte als Theologe diese Lehren Madame Guyons
durch intensives Studium patristischer und mittelalterlicher Mystik unterbauen.
Langsam ordnete er seinen Weg um Begriffe wie Leerwerden, Zunichte-Werden,
Hingabe, Nicht-Schauen usw. Und in der Mitte von alledem fand er die
selbstlose, reine Liebe, die nur liebt um des anderen willen, nicht aber wegen
Erfahrung oder Liebreiz oder Schönheit usw.
Madame de Maintenon aber wird aus vielen Gründen -
sicherlich auch durch Machenschaften von Erzbischof de Harlay - zur Gegnerin
von Madame Guyon und damit auch Fenelons. Der Kreis von Saint-Cyr, wo beider
Mystik blühte, wird aufgelöst. Gegen Madame Guyon wird der Vorwurf von Häresie
erhoben. Der alte Freund Fenelons, Bischof Bossuet, kippt um. Madame de
Maintenon gelingt es, Fenelon mit der Verleihung des Bischofsstuhles von
Cambrai aus Paris zu entfernen. Ein halbherziger Kompromiß von Issy (1695)
schafft nur wenig Ruhe. Politik und Frömmigkeit, cartesianischer Rationalismus
und mystische Radikalität, Bossuet ur Fenelon stehen gegeneinander.
Ein erster Punkt der Streitigkeiten: ob Mystik, wie Fenelon
meint, nur eine Entfaltung christlicher Gnade sei, ist weniger brennend; hier
kann Fenelon viele Argumente anführen. Aber der zweite wird zum Verhängnis. Ist
der Höhepunkt der mystischen Liebe ohne jedes
eigene Interesse, ohne Suchen nach eigenem Glück? Oder darf man die auf
den Menschen bezogenen Erfüllungen nicht ausklammern aus der höchsten
Gottesliebe? Louis Cognet macht darauf aufmerksam, daß in der Kontroverse der
ontologische Gesichtspunkt (wo Liebe zu Gott und eigene Erfüllung untrennbar
eins sind) und die psychologische Erfahrung (daß ein Mensch aus Liebe sich
selbst vergißt) niemals klar getrennt werden.
Da Bossuet spürt, daß er rein argumentativ nicht siegen
kann, intrigiert er. Madame Guyon wird ins Gefängnis geworfen [27. XII. 1695;
seit 4. VI. 1698 in d Bastille], und ein literarisch perfektes Werk aus Bossue
Hand verdächtigt zwischen den Zeilen das Verhältnis Guyon-Fenelon. Aber dieser
bringt seinen Fall selbst nach Rom. Dort aber sind es unglücklicherweise Jesuiten,
die allmählich selbst in Mißkredit bei der Kirche geraten sind, die ihn verteidigen,
während Bossuet eine Gruppe von jansenismus-freundlichen Klerikern für sich
hat. Man versucht, Fenelon und Molinos innerlich zu verknüpfen.
Der König ergreift für Bossuet Partei. Und trotz des
Widerstandes Innozenz' XII. kommt es [12. III. 1699] zu einer vorsichtigen
Verurteilung von Sätzen aus dem ,Explication des Maximes des Saints sur la vie
interieur‘, mit denen Fenelon Madame Guyon zu verteidigen suchte.
Fenelon erkennt die Verurteilung an, aber nicht, daß
damit seine eigene Meinung getroffen sei. Er lehrt weiter wie bisher, unterhält
weiterhin die Freundschaft mit Madame Guyon, die 1703 aus der Bastille
entlassen wird. Fenelon selbst scheint in diesen Intrigen gereift zu sein. Als er
1715 starb, verehrten ihn viele wie einen Heiligen."
(vgl. E. Jungclausen,
Suche Gott in dir; 1986)
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