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Freitag, 16. Oktober 2015

Ist die Kirche im Begriff zu kapitulieren?

„Wo ist dein Bruder?"
Und Kain antwortet mit der Gegenfrage eines Liberalen:
„Bin ich denn der Hüter meines Bruders?"

Das Buch Genesis entlarvt die Gegenfrage Kains als rhetorischen Ausdruck der Gesinnung des Mörders. Der Mensch als Person trägt Verantwortung für seinen Bruder. Er soll wissen, wo der Bruder ist. Einen schönen Beleg für die Selbsttranszendenz des Menschen sah ich einmal auf einem Lastwagenaufkleber: „Denk an deine Frau, fahr vorsichtig!" Hier ist nicht die Rede von der Sorge, ein zu mir gehörendes Wesen zu verlieren, eine Sorge, die auch Tiere haben, sondern hier denkt sich jemand als dem anderen zugehörig, als Teil der Welt des anderen, der dem anderen zuliebe mit sich selbst behutsam umgeht.

Was nun die eheliche Gemeinschaft betrifft, so ist die katholische Kirche die einzige Institution der Welt, die das vor Gott gegebene Versprechen ernst nimmt, den Bund als mit diesem Versprechen entstandene Entität als ein neues Rechtssubjekt ernst nimmt, und seine Entstehung durch die Anwesenheit freier Zeugen und den Segen des Priesters dokumentiert.
Es ist ein Versprechen, das in die Sterne geschrieben ist, wo niemand, kein Papst, kein Standesamt und auch nicht die Ehepartner selbst es wieder herunterholen können.
Natürlich ist eine lebenslange enge Gemeinschaft Belastungen ausgesetzt. Das tiefe Glück, das sich mit diesem Bund verbindet, erfährt nur der, der von Anfang an auch willens ist, das Kreuz, an das er sich nageln lässt, von Herzen anzunehmen. Dazu gehört eine Einstellung zum Leben, die die Bereitschaft zum Opfer einschließt. Diese kann nicht in einer Stunde grundgelegt werden. Und das besonders heute, im Zeitalter des selfish System.

Die katholische Kirche lehrt, dass das verlässliche Halten des Eheversprechens ohne besonderen Beistand nicht möglich sei. Aber dieses besonderen Beistands können wir gewiss sein, weil die Ehe ein Sakrament ist, also ein Ort der Vergegenwärtigung des Mysteriums von Kreuz und Auferstehung. Was aber durch das Sakrament wiederhergestellt wird, ist, wie Christus sagt, die „Ordnung des Anfangs", das heißt die natürliche Ordnung der Dinge. Ein Versprechen halten ist nun einmal „von Natur" richtiger als es brechen. Dass die Jünger zunächst entsetzt sind über die Verkündigung von der Unauflöslichkeit der Ehe, zeigt nur, dass die gesellschaftliche Normalität sich bereits damals von dem „von Natur" Richtigen weit entfernt hatte.

Die Wiederherstellung des „Anfangs" ist für die erbsündige Natur mit Mühe verbunden.
„Geh hin und sündige nicht mehr"
sagt Christus zur Ehebrecherin,
nachdem er ihr verziehen und sie vor der Steinigung gerettet hat.

Die katholische Kirche hätte allen Grund, in der Nachfolge Jesu mit Stolz dem Zeitgeist die Stirn zu bieten, statt nach Schlupfwegen Ausschau zu halten, die die Botschaft verwässern. „Ihr seid das Salz der Erde", sagt der Herr. Wenn das Salz schal wird, salzt es nicht mehr. „Es wird weggeworfen und von den Leuten zertreten."
Sind wir heute da angelangt?
Ist die Kirche im Begriff zu kapitulieren?
Wo es doch ihre Aufgabe ist, die Schönheit der Botschaft des Evangeliums zum Strahlen zu bringen.

Erschüttert müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Ehescheidungen bei Katholiken fast so häufig sind wie bei Nichtkatholiken. Und in den Annullierungsverfahren spielen mangelnder Konsens oder mangelnder Zeugungswille eine Rolle, die sie nicht spielen dürften, wenn die kirchliche Ehevorbereitung in Ordnung gewesen wäre. Dann wäre nämlich dieser Defekt schon vor der Heirat manifest geworden, und eine kirchliche Trauung hätte nicht stattfinden dürfen. Der Kursleiter hätte die Brautleute fragen müssen, ob sie wirklich willens seien, einen unwiderruflichen Bund einzugehen und bis zum Tod eines der beiden alle Brücken hinter sich abzubrechen. Wenn stattdessen die Brautpaare - wie ich bezeugen kann – darauf hingewiesen werden, dass ja beim eventuellen Scheitern der ersten Ehe die Möglichkeit des Gelingens einer zweiten bestehe, dann wird ja schon ein später geltend zu machendes Ehehindernis aufgebaut.
Es sei denn, das Brautpaar weist das ihm in Aussicht gestellte Gift entschieden zurück.

(Robert Spaemann, „…der isst und trinkt sich das Gericht“, Vatican-Magazin 10/2015)


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