Alle Jünger sind geflohen,
voller Taumel verleugnet
selbst Petrus.
Da wirft sich eine Frau in
die dicht geballte Gemeinheit,
in das Zentrum des Todes.
Sie findet Jesus
und nimmt sein Gesicht in
ihre Hände.
Lehre uns, Veronika, der
Menschenfurcht die Stirne zu bieten!
Denn jeder, dem Christus
nicht nur ein Bild ist,
sondern eine Wirklichkeit, wird
den andern Menschen
sofort unangenehm und verdächtig.
Sein Lebensstil ist
verdreht, seine Beweggründe
sind nicht mehr die ihren.
Irgend etwas ist in ihm,
das ihnen entgeht und fern von
ihnen ist.
Ein angesehener Mann, der seinen
Rosenkranz betet
und furchtlos zur Beichte
geht, der freitags
kein Fleisch ist, und den
man wie die Frauen
in der Messe sieht:
So etwas macht einen
lachen, es schockiert,
so etwas ist komisch und
aufreizend zugleich.
Er soll sich nur in acht
nehmen bei seinem Tun,
denn man hat ein Auge auf
ihn. Er soll nur ja
jeden seiner Schritte in
acht nehmen, denn er ist
wie ein Zeichen. Ja, jeder
Christ ist seines Christus
wahres, wenn auch
unwürdiges Bild.
Und das Gesicht, das er
zeigt, ist ein trivialer Widerschein
jenes göttlichen Antlitzes
in seinem Herzen, i
in Abscheu und Triumpf. –
Laß es uns noch einmal auf
dem Tuch betrachten,
o Veronika, wo du es
aufgefangen,
jenes Antlitz der heiligen Wegzehrung.
Jener Schleier aus frommen
Linnen,
auf dem Veronika geborgen
hat
das Antlitz des
Weinkelterers am Tage seiner Trunkenheit,
damit auf ewig sein Bildnis
daran hafte,
wie es gemacht ist
aus seinem Blut,
seinen Tränen und –
aus unserem Anspeien.
(Paul Claudel (1868-1955), Der
Kreuzweg
Übertragen von Klara Marie
Faßbinder, 1938)
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