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Freitag, 11. April 2014

Lehre uns Veronika! - Kreuzweg, 6. Stat.

6. Station - Veronika reicht Jesus das Schweißtuch

Alle Jünger sind geflohen,
voller Taumel verleugnet selbst Petrus.

Da wirft sich eine Frau in die dicht geballte Gemeinheit,
in das Zentrum des Todes.
Sie findet Jesus
und nimmt sein Gesicht in ihre Hände.

Lehre uns, Veronika, der Menschenfurcht die Stirne zu bieten!
Denn jeder, dem Christus nicht nur ein Bild ist,
sondern eine Wirklichkeit, wird den andern Menschen
sofort unangenehm und verdächtig.
Sein Lebensstil ist verdreht, seine Beweggründe
sind nicht mehr die ihren.
Irgend etwas ist in ihm,
das ihnen entgeht und fern von ihnen ist.

Ein angesehener Mann, der seinen Rosenkranz betet
und furchtlos zur Beichte geht, der freitags
kein Fleisch ist, und den man wie die Frauen
in der Messe sieht:
So etwas macht einen lachen, es schockiert,
so etwas ist komisch und aufreizend zugleich.
Er soll sich nur in acht nehmen bei seinem Tun,
denn man hat ein Auge auf ihn. Er soll nur ja
jeden seiner Schritte in acht nehmen, denn er ist
wie ein Zeichen. Ja, jeder Christ ist seines Christus
wahres, wenn auch unwürdiges Bild.
Und das Gesicht, das er zeigt, ist ein trivialer Widerschein
jenes göttlichen Antlitzes in seinem Herzen, i
in Abscheu und Triumpf. –

Laß es uns noch einmal auf dem Tuch betrachten,
o Veronika, wo du es aufgefangen,
 jenes Antlitz der heiligen Wegzehrung.

Jener Schleier aus frommen Linnen,
auf dem Veronika geborgen hat
das Antlitz des Weinkelterers am Tage seiner Trunkenheit,
damit auf ewig sein Bildnis daran hafte,
wie es gemacht ist
aus seinem Blut,
seinen Tränen und –
aus unserem Anspeien.

(Paul Claudel (1868-1955), Der Kreuzweg
Übertragen von Klara Marie Faßbinder, 1938)


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