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Mittwoch, 9. April 2014

Ruft euch die Nacht zurück! - Kreuzweg, 4. Stat.

4. Station - Jesus begegnet seiner Mutter

O Mütter,
die ihr das erste und einzige Kind habt sterben sehen,
ruft euch die Nacht zurück,
die letzte, bei dem kleinen, wimmernden Wesen,
das Wasser, das man ihm zu trinken geben will,
das Eis, das Thermometer,
und den Tod,
der leise, leise sich naht,
den man nicht mehr verkennen kann.
Zieht ihm seine armen Schühlein an,
gebt ihm ein frisches Hemdlein und frische Windeln!
Einer kommt,
der es mir nehmen und in die Erde
legen wird.
Leb wohl, mein süßes Kind!
Leb wohl, du Fleisch von meinem Fleisch! -

Die vierte Station ist Maria,
die ganz Hinnahme ist.
Da steht sie an der Straßenecke und wartet auf
ihn, aller Armut Hort.
Ihre Augen haben keine Tränen,
ihr Mund hat keinen Speichel.
Sie spricht kein Wort und schaut Jesus an,
wie er da kommt.
Sie nimmt hin.
Sie nimmt noch einmal hin.
Strenge
unterdrückt sie jeden Schrei in ihrem starken,
graden Herzen. Sie spricht kein Wort
und schaut Jesus
Christus an.
Die Mutter betrachtet ihren Sohn,
die Kirche ihren Erlöser.

Heftig geht ihre Seele ihm entgegen, gleich
Dem Schrei des sterbenden Soldaten.

Aufrecht steht sie vor Gott und hält ihm ihre Seele hin.
Nichts ist in ihrem Herzen, das sich verweigert oder zurücknimmt,
keine Fiber ihres durchbohrten Herzens, die nicht hinnimmt
und nicht einwilligt.
Und wie Gott selbst zugegen ist, so ist sie zugegen.
Sie nimmt hin
und schaut auf den Sohn, den sie in ihrem Schoße empfangen hat.
Sie spricht kein Wort
und schaut den Heiligen der Heiligen an.

(Paul Claudel (1868-1955), Der Kreuzweg
Übertragen von Klara Marie Faßbinder, 1938)


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