Fastenzeit in den Orthodoxen Kirche
Die ältesten christlichen Schriften sagen uns
übereinstimmend, dass diese Fastenzeit von den heiligen Aposteln festgesetzt
wurden, um es dem vierzigtägigen Fasten des Mose (2. Mose, 34), des Elias (3.
Könige, 19) und vor allen Dingen unseres Herrn Jesus Christus, der ebenfalls
vierzig Tage lang gefastet hatte (Matth. 4,2), gleichzutun. Die frühen Christen
haben für die „Großen Fasten“ die Zeit des Kirchenjahres festgesetzt, da die
heilige Kirche der Leiden unseres Herrn und Erlösers am Kreuze gedenkt, damit
wir es einerseits durch das Fasten einüben, unserem Herrn auch in Seiner
Selbstverleugnung mehr und mehr ähnlich zu werden und anderseits unsere Liebe
zu unserem Heiland, der für uns und die ganze Welt gelitten hat, auch im
Verzicht bezeugen zu lernen.
Diese Fastenzeit dauert sieben Wochen. Die ersten sechs
Wochen sind der inneren Läuterung und Erneuerung des Christen gewidmet. Die
siebente Woche - die Karwoche - ist den letzten Tagen des irdischen Daseins
unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus, Seinen Leiden, Seinem Tod am Kreuz
und seiner Grablegung gewidmet.
Die Fasten bedeuten nicht nur, dass man möglichst wenig
tierische Nahrung zu sich nimmt, sie rufen uns auch zu einem Verzicht auf
liebgewonnene, aber letztendlich eitle Gewohnheiten, einem häufigeren Besuch der
Gottesdienste, einem vermehrten häuslichen Gebet, einem verstärkt Bereitschaft,
die von uns begangenen Sünden zu bereuen und sie aufrichtig zu beichten, sowie
einem wiederholten Empfang der heiligen Sakramente, insbesondere der heiligen
Eucharistie, auf.
Zwischen dem Fasten und Ostern besteht ein enger
Zusammenhang. Ostern - das ist Christi Auferstehung und unser neues Leben in
Ihm. Und in dieses neue Leben müssen wir vorbereitet eintreten. Das Fasten ist
also eine hilfreiche Hand, die uns die Kirche entgegenstreckt. Sie ist eine
Unterweisung in der wahren Bedeutung des Fastens als Buße (das griechische Wort
Metanoia / Buße bedeutet wörtlich Umkehr oder Abkehr von unseren falschen
Gewohnheiten). Nur eine Schärfung unseres kirchlichen Bewusstseins kann uns
darauf vorbereiten, im Osterfest nicht einfach eine Erlaubnis zu erblicken,
unser altes Leben und seine falschen Gewohnheiten wieder aufzunehmen. Gerade
die Kirche möchte uns durch eine, recht verstandene Zeit der Großen Fasten dazu
helfen zu erkennen, dass das „Alte“, das Hinfällige in uns, aufgehört hat zu
existieren und wir nun in dieses neue Leben, das uns Christus durch seiner
Auferstehung geschenkt hat, eintreten dürfen.
Da die Heilige Kirche weiß, dass wir nicht imstande sind,
uns schnell zu wandeln und ohne weiteres von einer Gemütsverfassung zur anderen
überzugehen, kündigt sie die Großen Fasten lange vor deren Beginn in den
Gottesdiensten an und ruft uns auf, uns innerlich darauf vorzubereiten. In den
fünf Wochen, die den Fasten vorangehen, wird in jeder sonntäglichen Lesung des
Evangeliums ein Hauptaspekt der Buße berührt.
I. - Die Woche über Zachäus (Lk. 19, 1-10). Im Laufe dieser
Woche überzeugt uns die heilige Kirche davon, dass wenn der Mensch, wenn er aus
tiefster Seele bereut, Christus in das Haus seiner Seele einkehrt.
II. - Die Woche über den Zöllner und den Pharisäer (Lk. 18.
10-14). Im Laufe dieser Woche stellt uns die heilige Kirche vor Augen, dass es
die tiefe Demut und das Erkennen der eigenen Sündhaftigkeit ist, das die Seele
des Menschen heilt und sie mit Gott verbindet, und nicht ein rein äußerliches,
formales Einhalten des Gesetzes. Demut ist der Beginn einer echten Reue.
III. - Die Woche über den verlorenen Sohn (Lk. 15. 11-32).
Im Evangelium dieser Woche und den Gebeten dieser Woche ist die Rede von einem
Menschen, der moralisch auf Abwege geraten ist, jedoch aus dieser seiner
Selbstverbannung zurückkehrt, indem er Buße tut. Weiter sehen wir, wie uns die
wahre Buße als ein Neubeginn mit Gott unserem Vater, der uns liebt und
sehnlichst auf unsere Heimkehr zu Ihm wartet, versöhnt.
IV. - Die Woche vor den Großen Fasten oder über das Jüngste
Gericht (Matth. 23. 31-46). In der auf diesen Sonntag folgenden Woche schreibt
die Kirche ein teilweises Fasten vor - es darf kein Fleisch gegessen werden.
Damit beendet die Kirche allmählich die Vorbereitungen auf die Große
Fastenzeit.
Die Kirche kennt unsere Unbeständigkeit, unsere geistige und
seelische Schwäche, daher führt sie uns Schrittweise an den Verzicht in der
Großen Fastenzeit heran.
Am Vorabend dieses Tages, am vierten Vorfastensamstag,
gedenkt die Kirche aller, die "in der Hoffnung auf eine Auferstehung und
auf ein ewiges Heil" entschlafen sind. Der Gedenkgottesdienst (slawisch:
Pannichida, griechisch Parastasis) am vierten Vorfastensamstag dient als
Vorbild für alle anderen Gedenkgottesdienste und wird so auch am zweiten, am
dritten und am vierten Sonnabend der Großen Fasten gehalten.
Am vierten Vorfastensonntag ist die Evangeliumslesung der
Lehre unseres Herrn vom Jüngsten Gericht (Matth. 25, 31 - 46) gewidmet. Nach
welchem Maßstab wird uns Christus richten? Das Gleichnis des Erlösers
antwortet: nach dem Maßstab der Liebe. So wie wir uns zu unseren Mitmenschen
verhalten haben, so wird sich der Herr auch zu uns verhalten: „Was ihr getan habt
einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr Mir getan...“
(Matth. 25, 40).
Am Mittwoch und Freitag dieser Woche wird keine Göttliche
Liturgie gefeiert und der gesamte Ablauf des Stundengebetes weist
Besonderheiten auf, die sich auf die Fastenzeit beziehen.
Der Sonnabend dieser Woche ist dem Andenken „an die Männer
und Frauen, die durch die Fasten errettet wurden“ gewidmet. Die Heiligen, deren
Beispiel wir folgen, unterweisen uns in der schwierigen Kunst des Fastens und
der Buße. Diese ganze Woche wird im Volksmund die „Butterwoche“ oder Karneval
genannt. In dieser Woche essen wir kein Fleisch mehr, dafür sind Butter, Käse
und Fisch jedoch erlaubt.
V.- Die Butterwoche oder der Sonntag vor der großen
Fastenzeit (Matth. 6, 14-21). Er trägt die liturgische Benennung „Die Vertreibung
Adams aus dem Paradies“ wodurch die gesamten Vorbereitungen auf das Fasten
sozusagen resümiert werden.
Der Mensch wurde erschaffen für ein Leben im Paradies, auf
dass er Gott kenne und mit Ihm Umgang habe. Aber die Sünde hat den Menschen
dieses seligen Lebens beraubt, und sein Dasein auf der Erde gleicht nun einem
Exil. Christus, der Erretter der Welt, tut einem jeden, der Ihm folgt, die
Pforte zum Paradies auf. Zu Beginn des Fastens werden wir Adam ähnlich. Das Fasten
hilft uns, durch die Gnade Gottes, mehr und mehr von der Sünde befreit zu
werden. An diesen Sonntagen der Vorbereitungswochen werden Bußgesänge gesungen,
die uns auch im Laufe der ganzen Großen Fasten begleiten werden: „Sieh Herr,
ich tue Buße, öffne mir die Lebenspendende Pforte...“ An den letzten zwei
Sonntagen vor dem Fasten hören wir im Frühgottesdienst nach den freudigen und
feierlichen Psalmen den von Wehmut erfüllten 137. Psalm: „An den Wassern zu
Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten...“ Das ist ein Psalm
der Vertreibung. Ihn sangen die Juden In der babylonischen Gefangenschaft, als
sie ihrer Heiligen Stadt Jerusalem gedachten. Dieser Psalm ist für immer das
Lied des Menschen geworden, der weiß, dass er vertrieben, dass er von Gott
getrennt ist und begreift, dass er sein Heil nur in Gott findet, in dem
Wunsche, sich eng mit Ihm zu vereinen.
Richtig beginnt das Fasten am Abend des Letzten Sonntags vor
der großen Fastenzeit. Die Geistlichen sind in helle Ornate gekleidet, aber die
Bittgesänge zu Gott: künden bereits davon, dass die Großen Fasten anbrechen. In
dem Psalmenvers: „Herr, wende Dein Angesicht nicht ab von Deinem Diener, sieh,
wie ich leide, erhöre mein Flehen - nimm meine Seele und erlöse sie“ ist der
Ausgangspunkt des Fastens zu spüren: und zwar die insgeheime Verbindung
zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Finsternis und Licht. Nur Gott
allein vermag mir in meinem Schmerz zu helfen, nur Er allein kann meine Seele
retten und erlösen. Dieser Psalmvers wird fünfmal wiederholt. Und nun sind die
Fasten bereits angebrochen! Die hellen Ornate werden gegen dunkle, strenge
Gewänder vertauscht, die helle Beleuchtung wird gelöscht. Zum ersten Mal wird
das den Großen Fasten geltende Bußgebet Ephraims verrichtet, wobei sich die
Betenden bis zur Erde verneigen:
„Herr und Gebieter meines Lebens, den Geist des Müßiggangs,
des Verzagens, der Herrschsucht und unnützer Worte, gib mir nicht!
Schenke vielmehr mir, Deinem Diener, den Geist der
Keuschheit, der Demut, der Geduld und der Liebe.
Ja, Herr, mein König, gewähre mir, meine eigenen Sünden zu
erkennen und nicht meine Schwestern und Brüder zu verurteilen, denn gesegnet
bist Du von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“
Am Ende des Gottesdienstes treten die Gläubigen an den
Geistlichen heran, um ihn um Vergebung zu bitten, danach bitten sie einander
gegenseitig um Vergebung. Das Fasten beginnt eben mit dieser Bekundung von
Liebe, Einigung und Brüderlichkeit, der Chor aber stimmt die Gesänge des
Osterkanons an.
Wir haben vierzig Tage lang zu fasten, doch am Ende dieses
Weges leuchtet uns bereits das österliche Licht, das Licht der ewigen
Glückseligkeit in Christus.
Am vierten Fastensonntag empfiehlt uns die Kirche als
erhabenes Vorbild beim Fasten den ehrwürdigen Johannes Klimakos, der uns in
seinem Buch „Eine zum Himmel hinaufführende Leiter“, gleichsam einem
Reiseführer für den Weg der geistigen Vereinigung des Menschen mit Gott
hinterlassen hat.
Am fünften Fastensonntag wird der heiligen Maria von Ägypten
gedacht, die mit ihrem Leben ein Beispiel wahrer Buße gegeben hat.
Am Karfreitag wird vor einer mitten in der Kirche stehenden
Ikone des heiligen und Lebenschaffenden Kreuzes unseres Herrn der Gottesdienst
der heiligen und erlösenden Leiden unseres Herrn Jesus Christus vollzogen. Alle
Evangelien-Lesungen werden bei brennenden Kerzen und unter Glockengeläut
verlesen. Die Prozession mit dem Grabtuch, worauf Christi Grablegung abgebildet
ist, rund um die Kirche (der Heiland wurde in der Nacht zum Sonnabend ins Grab
gelegt) versetzt uns in unseren Gedanken und Empfindungen in jene Zeit zurück,
da der heilige Joseph von Arimatäa und der heilige Nikodemus der Ratsherr ihre
Furcht vor Pilatus überwanden und dem Gekreuzigten treu und ergeben die letzte
Ehre erwiesen, indem sie Seinen vom Kreuz abgenommenen Reinen Leib „in ein
reines Tuch einhüllten und ihn in ein neues Grab legten“.
Am Samstag vor Ostern gedenkt die heilige Kirche des
Aufenthalts des Leibes Jesu Christi im Grabe und erinnert sich an das
Hinabsteigen Christi zu den Entschlafenen in das Reich des Todes, an die
Einführung des reuigen Schächers (= Sünders) in das Paradies, an das Verweilen
mit dem Vater und dem Geist auf dem himmlischen Thron und gleichzeitig besingt
sie prophetisch das großes Ereignis, die helle Auferstehung Christi im Voraus.
Den ganzen Gottesdienst überkommen einen in wundersamer
Weise ganz entgegengesetzte Gefühlsregungen: man empfindet Schmerz und Freude,
spürt Tränen und helles Frohlocken, wenn die letzten Fastengesänge endlich mit
den Auferstehungsgesängen verschmelzen und erst im aufklingenden Jubel über die
Auferstehung Christi:
„Christus ist erstanden von den Toten, durch den Tod hat er
den Tod besiegt, und denen in den Gräbern das Leben aus Gnaden geschenkt.“
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