Niemand wird bezweifeln, dass man diesen Autoritäten der
späteren Epoche absolut den Vorzug geben muss. Denn wenn man fortfahren wollte,
sich auf die älteren Väter zu berufen, nachdem jene Väter, die gegen die
Häresien gekämpft haben, ihre Lösungen für die Schwierigkeiten geboten haben,
so hieße das nichts weniger, als den Glauben der einfachen Leute in Gefahr zu
bringen. Man würde sie dazu verleiten, die verwirrenderen und unklareren
Ausdrucksweisen einer klareren und genaueren Formulierung vorzuziehen, einen
oberflächlichen Ausspruch höher als eine gründliche Darlegung zu schätzen.
Diese Gefahr wäre umso größer, als man sich des Vorwandes bedienen könnte, der
alten Lehre treu zu bleiben. Was wäre wahrscheinlicher, was wäre schließlich
wahrhafter, als mit Vinzenz von Lerins zu sagen, dass man sich nach dem Alter
richten solle? Wer könnte glauben, dass dieser Grundsatz zu einer Täuschung führen
könnte? Und dennoch ist genau dies der Fall. Dass man sich nach dem Alter
richten müsse, das ist freilich der Kern der Regel von Vinzenz. Man muss aber
hinzufügen, dass sich nach Auffassung desselben Vinzenz die spätere Epoche oft mit größerer Klarheit
äußert. Das aber verschweigen unsere Kritiker üblicherweise, und sie
weichen so sehr von der Regel ab, die für das katholische Verständnis
durchgängig gilt, dass sie ganz ohne Scheu behaupten, man dürfe sich nach dem
Auftreten der Kontroversen nicht ohne Weiteres auf jene Väter verlassen, denn
die Schärfe des Disputes habe sie dazu gebracht, mehr zu sagen, als es
eigentlich ihre Absicht war.
Doch sollte man die
Ausdrucksweisen, die die Väter vor und nach ihren Auseinandersetzungen mit den
Häretikern verwendeten, nicht gegeneinander ausspielen. Beide sind wahr,
und beide sind der Kirche dienlich: An der ersten Darstellungsform erkennt man
die natürliche Schlichtheit und das wunderbare Fortbestehen des Glaubens,
während man mit der zweiten mehr Anleitung erhält, um eine tiefere Erkenntnis
und einen genaueren Begriff der nämlichen Glaubensartikel zu erlangen. Denn Häresien lassen die Theologen aufmerksamer
werden. Andererseits jedoch, und dies ist eine völlig gesicherte Tatsache,
findet man bei jenen Vätern, die vor dem Auftreten von Häresien geschrieben
haben, mehr an elementarer Kraft, denn man erkennt gut, dass sie frei von jeder
polemischen Stellungnahme sind. Darum
ergänzen sich die beiden Darstellungsformen und stützen sich je nach
Gesichtspunkt gegenseitig.
So sieht man also schon zur Genüge, dass unsere
Klassifikation der Traditionszeugnisse in die genannten drei Kategorien den
tatsächlichen Verhältnissen angemessen ist. Bei diesen drei Kategorien ergibt
sich keine Schwierigkeit für die erste und die dritte Kategorie, sondern
lediglich für die zweite, die den Übergang vom einfachen Glauben zu Erklärungen
markiert, welche ein tieferes Verständnis oder einen besseren Schutz gegen die
neuen Lehren der Häresien gewähren. Wir haben folglich darauf zu schauen,
welches die rechtmäßige Interpretation hinsichtlich jener Texte ist, die in
diesem Übergangsstadium auf den ersten Blick im Gegensatz zur Rechtgläubigkeit
zu stehen scheinen.
(Aus: Louis Billot. Tradition und Modernismus. 2. Kap.
Die Ursache der scheinbaren Widersprüche in den Zeugnissen
der Tradition)
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