Seiten dieses Blogs

Dienstag, 19. Januar 2016

Klassifikation der Traditionszeugnisse

Niemand wird bezweifeln, dass man diesen Autoritäten der späteren Epoche absolut den Vorzug geben muss. Denn wenn man fortfahren wollte, sich auf die älteren Väter zu berufen, nachdem jene Väter, die gegen die Häresien gekämpft haben, ihre Lösungen für die Schwierigkeiten geboten haben, so hieße das nichts weniger, als den Glauben der einfachen Leute in Gefahr zu bringen. Man würde sie dazu verleiten, die verwirrenderen und unklareren Ausdrucksweisen einer klareren und genaueren Formulierung vorzuziehen, einen oberflächlichen Ausspruch höher als eine gründliche Darlegung zu schätzen. Diese Gefahr wäre umso größer, als man sich des Vorwandes bedienen könnte, der alten Lehre treu zu bleiben. Was wäre wahrscheinlicher, was wäre schließlich wahrhafter, als mit Vinzenz von Lerins zu sagen, dass man sich nach dem Alter richten solle? Wer könnte glauben, dass dieser Grundsatz zu einer Täuschung führen könnte? Und dennoch ist genau dies der Fall. Dass man sich nach dem Alter richten müsse, das ist freilich der Kern der Regel von Vinzenz. Man muss aber hinzufügen, dass sich nach Auffassung desselben Vinzenz die spätere Epoche oft mit größerer Klarheit äußert. Das aber verschweigen unsere Kritiker üblicherweise, und sie weichen so sehr von der Regel ab, die für das katholische Verständnis durchgängig gilt, dass sie ganz ohne Scheu behaupten, man dürfe sich nach dem Auftreten der Kontroversen nicht ohne Weiteres auf jene Väter verlassen, denn die Schärfe des Disputes habe sie dazu gebracht, mehr zu sagen, als es eigentlich ihre Absicht war.

Doch sollte man die Ausdrucksweisen, die die Väter vor und nach ihren Auseinandersetzungen mit den Häretikern verwendeten, nicht gegeneinander ausspielen. Beide sind wahr, und beide sind der Kirche dienlich: An der ersten Darstellungsform erkennt man die natürliche Schlichtheit und das wunderbare Fortbestehen des Glaubens, während man mit der zweiten mehr Anleitung erhält, um eine tiefere Erkenntnis und einen genaueren Begriff der nämlichen Glaubensartikel zu erlangen. Denn Häresien lassen die Theologen aufmerksamer werden. Andererseits jedoch, und dies ist eine völlig gesicherte Tatsache, findet man bei jenen Vätern, die vor dem Auftreten von Häresien geschrieben haben, mehr an elementarer Kraft, denn man erkennt gut, dass sie frei von jeder polemischen Stellungnahme sind.  Darum ergänzen sich die beiden Darstellungsformen und stützen sich je nach Gesichtspunkt gegenseitig.

So sieht man also schon zur Genüge, dass unsere Klassifikation der Traditionszeugnisse in die genannten drei Kategorien den tatsächlichen Verhältnissen angemessen ist. Bei diesen drei Kategorien ergibt sich keine Schwierigkeit für die erste und die dritte Kategorie, sondern lediglich für die zweite, die den Übergang vom einfachen Glauben zu Erklärungen markiert, welche ein tieferes Verständnis oder einen besseren Schutz gegen die neuen Lehren der Häresien gewähren. Wir haben folglich darauf zu schauen, welches die rechtmäßige Interpretation hinsichtlich jener Texte ist, die in diesem Übergangsstadium auf den ersten Blick im Gegensatz zur Rechtgläubigkeit zu stehen scheinen.

(Aus: Louis Billot. Tradition und Modernismus. 2. Kap.
Die Ursache der scheinbaren Widersprüche in den Zeugnissen der Tradition)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen