Jetzt möchten wir die paradoxe Tatsache aufdecken, daß der historische Relativismus die Geschichte ihres Wesens und ihres Sinnes beraubt.
Einerseits wollen die Vorkämpfer des historischen Relativismus die Geschichte zum letzten Maß aller Dinge machen; sie möchten sie verabsolutieren. Es ist z. B. unter progressistischen Katholiken modern geworden, von der „Verantwortlichkeit der Geschichte gegenüber" zu sprechen. (Unsere Verantwortlichkeit gegenüber Gott wird dabei irgendwie in den Hintergrund geschoben).
Aber anderseits hat die Entthronung der Wahrheit und die Leugnung aller objektiven Werte die Zerstörung der Tradition zur Folge. Und das heißt jeden Sinn der Geschichte leugnen.
Die Tradition aufzugeben kommt der Auflösung der Geschichte gleich, denn Geschichte setzt Tradition voraus.
Der Vergleich, den man oft zwischen dem Leben einer individuellen Person und der Geschichte der Menschheit gezogen hat, kann vielleicht helfen, Licht auf die wesenhaften und unentbehrliche Rolle zu werfen, die der Tradition in der Geschichte zukommt.
Wenn ein Mensch nicht die Fähigkeit besäße, die Vergangenheit zu bewahren, sondern ausschließlich vom gegenwärtigen Augenblick gespeist würde, so würde sein Leben aller Kontinuität entbehren; er wäre keine Person mehr. Eine Geschichte seines Lebens wäre unmöglich. Es gibt keine Geschichte von Hunden und Katzen. Geschichte kann es nur von Personen geben.
Tradition hat in der Geschichte der Menschheit eine ähnliche Funktion wie die Kontinuität in der Lebensgeschichte einer individuellen Person. Darüber hinaus erhält die Kontinuität im Leben des Individuums ihre tiefe Bedeutsamkeit allein durch die Tatsache, daß es große Wahrheiten und hohe Werte gibt, die, wenn sie einmal erschlossen worden sind, fordern, daß man beharrlich an ihnen festhält. Gäbe es keinen anderen Wert als den, „zeitgemäß" zu sein, so würde daraus in analoger Weise folgen, daß die Überlieferung von Wahrheit, von Idealen oder von kulturellen Schätzen bedeutungslos wäre und deshalb Geschichte keinen Sinn haben könnte. Kierkegaard drückt das so aus: „Wenn der Augenblick alles ist, ist der Augenblick nichts".
(Dietrich von Hildebrand,
Das Trojanische Pferd in der Stadt Gottes, 310ff)
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